Experiment Jammer Seminar – Artikel im Herzstück 5 – 2017

Herzstück-Ausgabe Heft 5 – 2017

Redakteurin Charlott Drung ergründet ihr inneres Jammerlieschen…

zu Besuch im Jammer-Seminar!

Ob ich eher Optimist oder Pessimist bin? Ich würde sagen Realist. Dennoch muss ich zugeben, dass ich ganz gerne mal vor mich hinjammere – meist aber mit einem zwinkernden Auge. Was mich wohl beim Jammer-Seminar erwartet?

Erst stellen wir Teilnehmer uns vor und lockern uns auf, dann reiht sich Jammer-Übung an Jammer-Übung. Mir scheint, dass es dabei zwei Arten gibt: Bei den einen jammern wir und probieren verschiedene „Techniken” aus, bei den anderen schenken wir uns Mitgefühl oder spiegeln unsere Gefühle.
Eine Technik, die ich überraschend effektiv finde, ist das „Sich-auf-dem-Boden-Räkeln”: Während ich über die hohen Raten meines Bafög-Darlehens klage, hämmere ich mit der Faust auf den Boden ein oder rolle wie ein Baumstamm durch den Raum. Was für ein loderndes Feuer in mir aufsteigt, bloß bei dem Gedanken an meine unterschriebene Einzugsermächtigung! Diese Energie in den Boden abzulassen tut richtig gut – sicher eine Übung, die ich mir für Regen- und Donnerwetter-Laune merke.
Während des Seminars komme ich aber immer wieder ins Stutzen: Zwei Teilnehmer sagen, ihnen geht es so gut, sie hätten nichts zu jammern. „Wie kann das denn sein?”, frage ich mich insgeheim. Die beiden machen mit, weil sie neugierig auf den Kurs sind. Natürlich jammern sie bei den Übungen auch – aber über allgemeine Themen wie Krieg oder den Müll am Strand. Meine Jammeranlässe sind aus meinem Leben gegriffen und scheinen im Vergleich zu Schiffbruch, tödlichen Epidemien oder anderen Katastrophen mehr als trivial. Vor allem mein Gejammer über meinen Lieblingssaft, den ich seit langer Zeit in keinem Bioladen mehr finden kann … Ich gerate fast schon in Verlegenheit: Viele Menschen verdursten – und ich trauere meinem Saft hinterher? Das habe ich schließlich im Seminar auch nicht das erste Mal getan. Ich frage mich: Bin ich verwöhnt? Eine Jammerliese? Oder verdrängen andere viel-
mehr ihre Jammeranlässe? Nun, niemand kann in andere hineinsehen. Für mich ist der verloren gegangene Saft zwar eine Banalität des Alltags, die mich aber an die Wertigkeit von Kleinigkeiten erinnert. Der Saft hat mich wie kein anderer erfrischt und erfreut! Schon alleine die Vorfreude hat mein Herz zum Hüpfen gebracht, mir Energie geschenkt! Und die Vorstellung, genau diesen Genuss nie mehr erleben zu dürfen, finde ich einfach unglaublich schade. Es wird wohl aber Zeit, diese „Genuss-Lücke” zu schließen und mich durch die Saftabteilung durchzuschmecken – wer weiß, wer dann mein neuer „Liebling” wird …!
Während ich mich auf meine zukünftigen Geschmacks-Experimente freue, kommen wir im Seminar zu einer anderen Übung: Barbara spielt auf ihrer indischen Shruti-Box eine Melodie. Ein Teilnehmer liegt immer zugedeckt auf dem Boden, alle anderen gehen um ihn herum und singen seinen Namen. Es erklingt ein harmonischer Singsang – wie schön! Und den eigenen Namen zu hören tut dem Herzen so gut.
Überhaupt scheinen mir die Übungen, in denen wir uns Aufmerksamkeit schenken und Gefühle spiegeln, besonders effektiv. Bei einer anderen Übung gehen wir alle im Kreis. Ein Teilnehmer sagt, worüber er traurig ist, und die anderen vertonen das Geräusch mit einem Seufzer, einem Ächzer oder einem anderen Klagelaut. Das geht kreuz und quer, von Teilnehmer zu Teilnehmer. Das Schöne: Ich muss nichts erklären oder rechtfertigen. Vor allem muss ich mir keine Lösungsvorschläge anhören (mal ehrlich: die meisten Lösungsvorschläge helfen doch eh nicht weiter). Ich leere einfach meinen Kopf und fühle mich angenommen. Das tut gut!

Charlott Drung